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Wie begreife ich Realität?

Realität in der Kindheit und im Erwachsenenalter

Die Wahrnehmung des Seins in menschlicher und von Menschen unabhängiger Gemeinschaft baut im Kind den Sinn für die Realität auf. Der Unterschied zwischen Objektivem und Subjektivem löst sich auf bei Bewältigung der Aufgabe, vor die mich die Wirklichkeit stellt im Erleben meines Seins. Realität ist eine Erfahrung des sich gegenwärtig sein: Eine Art Selbstgewissheit, die mit Verlassen der Kindheit verloren geht…

Als Kind mache ich Schritt für Schritt Bekanntschaft mit der Welt, die ich von meiner Realität nicht abgeschnitten weiß. Wo mir Welt begegnet, genau an dem Punkt begreife ich Realität und koste diese aus, ob in Freud oder Leid. Das Unbekannte, das Unerfahrene, dem ich mich mit Furcht oder Mut stelle, ist das Neue, und ich scheine König dieses Reiches zu sein, dessen Grenzen von meinen Einsichten gezogen werden.

Anders als Nicht-Kind: Es spricht keine Grenze zu mir. Die Grenzen bestehen im Schweigen der Welt, im nicht-existieren von Seinserfahrung, in einer Art Ausgegrenzt sein aus dem Paradies, im Verbot, welches so absolut ist, dass man nicht einmal weiß, was einem da so verboten wird. Jene – auf diese Weise sich auftuende – Unsicherheit ist das Gegenteil von Gewissheit und zugleich auch Angst vor der Zukunft. Sorgen, die ich als Kind nicht kenne, weil Zukunft für mich der nächste Tag, die nächste Woche ist, welche eine unendliche Zeit des Forschens in sich trägt. Über „später“ sich Gedanken zu machen kommt dem Kind nicht in den Sinn, nachdem die Gegenwart so viele Entdeckungen verspricht. Man erlebt sich im Hier der Gegenwart, und dies allein reicht aus für ein freudvolles Existieren: Bei sich zu sein, anstatt sich in eine ferne Zukunft versetzt zu betrachten.

Die Zukunft schleicht sich als Muss in die Welt des Erwachsenseins ein. Der Erwachsene muss vorsorgen. Ob er seinem Selbst auch in der Gegenwart zu begegnen vermag, erscheint ihm nicht mehr wichtig. Wichtig ist die Vorwegnahme dessen, wo er sich einmal befinden soll. Das Kind sucht sich im Augenblick und befindet sich hierdurch permanent in einem schöpferischen Zustand. Der Erwachsene versucht, sich in einem fernen Zukunftsideal zu begegnen, als wolle er über den eigenen Schatten springen. Ein grauenhaft einengender Zustand.

Eine Art Spinne ist die Zukunft, saugt der Gegenwart alles Lebendige aus und hinterlässt eine leere Hülle – hat man sich einmal im Netz der einander hinterherjagenden Zeitabschnitte, folgenschwerer zeitlicher Einheiten verfangen. Eine Stunde jagt die kommende, eine Pflicht die andere, ein Ausharren das darauf folgende... Dazwischen ein Stück schöpferische Gegenwart zu erhaschen? Versuche, die Zeit auszutricksen, bleiben Illusion. Die Zukunft, dies drohend riesige Spinnennetz bleibt zuletzt alles bestimmend.

Es gibt jedoch Festlichkeiten, die in ihrem Sog mit der Möglichkeit aufwarten, zeitlose Ruhe auf sich einwirken zu lassen. In der Messe werden die Leiden Christi gegenwärtig, und am Sonntag, mit der Auferstehung, wird er selber zur absoluten Gegenwart. Christliche Religion und Judentum haben diesen Sinn: Einen Gott zu erfahren, der sich Jahwe nennt: „Ich bin da.“

Unsere Tage erbrachten die Sucht, alles und zu jeder Zeit greifbar zu haben. Bedürfnisbefriedigung schenkt wohl ein Glücksgefühl. Ja, sie schenkt sogar die Gegenwart von Lebendigkeit, die wir nach Verlassen der Kindheit auf dem Weg zur erfolgreichen Bewältigung des Alltags verloren haben. Dem Erleben eines Jetztzustandes entspricht aber diese Art Freude nicht. Glück im Sinne des Kindes besteht in einer bedingungslosen Beziehung zum ewigen Jetzt. In einem Selbstempfinden also, welches nicht von äußeren Bedingungen abhängig ist. In dieser unabhängigen Identität ist das Kind verborgen. Identität kommt aus dem Griechischen und bedeutet „innere Einheit einer Person“.

Dem Kind, das die Welt gerade erst betreten hat, stellt diese innere Einheit ein kostbares Erleben dar, das es durch Bezug zum Außen zu vertiefen gilt. Der Erwachsene glaubt doppelt klug, sich das Äußere gefügig machend sein Inneres zu verdoppeln, um die Zerrissenheit zwischen Können und Wollen zu überwinden. Ein Kind, das der Welt mit Ehrfurcht und Staunen begegnet, scheint das reifere Wesen zu sein. Es handelt unsichtbar im Jetzt, in seinem Inneren. Der Erwachsene aber verliert sich im ungeliebten, zu ihm beziehungslosen Außen.

 

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Phil Koch